Impuls zum 26. Dezember 2020
Von pax christi-Präsident Bischof Peter Kohlgraf, Mainz
„Dienst an den Tischen“
Stephanus gilt als der erste Märtyrer, der für seinen Glauben an Christus das Leben gibt. An seinem Fest, dem 2. Weihnachtstag, hören wir davon aus der Apostelgeschichte (Apg 6,8-10; 7,54-60). Stephanus ist einer der ersten Diakone, deren Aufgabe der „Dienst an den Tischen“ war. Aus dem Bericht wird deutlich, dass er sowohl diakonisch wirkte, als auch wortmächtig seinen Glauben bezeugte. Sicher kann man diese erste apostolische Zeit noch nicht als Zeit systematischer Christenverfolgung beschreiben. Es handelt sich ja um religiöse Konflikte innerhalb des Judentums, dessen Teil die frühen Christen sind. Dennoch zeigt sich, dass der Ruf in die Kreuzesnachfolge durch Jesus für viele Christinnen und Christen keine rein spirituelle Übung geblieben ist. In den ersten Jahrhunderten finden viele den Tod, weil sie das Kaiseropfer verweigern, sie durchleben Rechtsunsicherheit und Bedrängnisse verschiedener Art. Der Kirchenschriftsteller Tertullian (ca. 150-220) kann feststellen, dass das Zeugnis der Märtyrer „Samen für neue Christen“ geworden ist. Tatsächlich schien der entschiedene Glaube manche der Zeitgenossen nicht nur abgestoßen, sondern sie auch zum Nachdenken über die dahinterliegende Glaubensstärke gebracht zu haben. Der Märtyrerbegriff ist heute in Verruf geraten, weil sich Menschen aufgrund ihrer religiösen Überzeugung in den Tod stürzen und möglichst viele andere Menschen mit in den Tod reißen wollen. Das war nicht die Haltung der frühen Christinnen und Christen. Sie sahen sich in der Nachfolge des leidenden Christus, der noch im Sterben seinen Verfolgern und Mördern vergibt. Auch von Stephanus wird berichtet, dass sterbend für seine Mörder betete. Noch nach den Zeiten der damaligen Verfolgung werden Schriftsteller immer wieder an die Gewaltlosigkeit und das überzeugende Lebensbeispiel erinnern. Nicht wenige Heiligenlegenden entstehen und stellen die Märtyrerinnen und Märtyrer in österliches Licht.
Verfolgung von Christen
Vielen Menschen heute ist nicht bewusst, dass die die Verfolgung von Christen und allgemein die Missachtung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit drängende Themen gerade auch unserer Zeit sind. Erinnern will ich besonders an die Situation der christlichen Gemeinden in Syrien und im Irak. Auch nach dem militärischen Sieg über den sog. Islamischen Staat ist die politische, wirtschaftliche und humanitäre Situation sehr schwierig. Orientalische Kirchen mit einer jahrhundertealten Tradition stehen vor der Überlebensfrage. Viele haben aus Not die Länder verlassen, sind auf der Flucht oder haben woanders neue Gemeinden gegründet. Sie leben in unserer Nachbarschaft, und doch wissen wir in unseren angestammten Gemeinden von ihnen wenig. Dabei könnte ihr Glaubens- und Lebenszeugnis auch für unser traditionelles Christentum eine Bereicherung sein.
In Deutschland existieren viele altorientalische und orthodoxe Gemeinden, die von großer Glaubensfreude und einer starken Gemeinschaftserfahrung geprägt sind. Sie können uns bereichern durch ihre Erfahrungen in bedrängten Situationen.
Am 26. Dezember sind wir eingeladen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Im Hinblick auf das Schicksal der verfolgten und bedrängten Kirchen werden unsere eigenen Themen nicht unwichtig. Doch werden sie in Relation gesetzt zur Situation der vielen Christinnen und Christen weltweit.
Die Redlichkeit verlangt es, auf einen Aspekt einzugehen, der im Zusammenhang mit dem Thema der Christenverfolgung nicht verschwiegen werden darf: Die Geschichte der Kirche ist nicht nur eine Geschichte der leidenden und verfolgten Schwestern und Brüder. In Zeiten, in denen die Kirche politische Machtpositionen beeinflusst oder sogar politische Gewalt ausübt, wird sie selbst immer wieder zur Verfolgerin. Politische Macht ist ihr nicht gut bekommen. Plötzlich werden andere unterdrückt und verfolgt. Das gilt für die traditionell Glaubenden im zu Ende gehenden römischen Reich; das gilt für manchen Ansatz der Mission; das gilt gegenüber dem Judentum, dem Islam und auch gegenüber dem Reichtum der Kulturen, in die das Christentum hineingeht. Sie alle haben die Kirche immer wieder gerade nicht als Hort der Freiheit erlebt. Es hat bis zum II. Vatikanum gedauert, bis die Kirche auch offiziell die Religionsfreiheit als Ausdruck der Menschenwürde und als Menschenrecht anerkannt hat. Umso wichtiger scheint mir, am Tag des Märtyrers Stephanus nicht nur an einen Glaubenszeugen zu erinnern, der gewaltsam den Tod erlitten hat, sondern auch seine Praxis der Gewaltlosigkeit wachzuhalten. Das gilt nicht erst in der Verfolgungssituation, sondern in den vielen Lebenslagen, in denen wir vor der Entscheidung stehen, verbal oder physisch zurückzuschlagen – oder den Weg der Versöhnung zu suchen.